Sebalder Steppe
Wir stellen uns vor: Fünf Jahre nach dem Krieg stehen wir mitten in der zerstörten und ausgeräumten östlichen Sebalder Altstadt, unser Blick richtet sich nach Norden, wir sehen die zerstörten Türme der Egidienkirche, wir drehen uns langsam und blicken weiter in den Osten, auf die Ruine des Laufer Schlagturms, unterhalb der unversehrte Grübelbunker, weiter das Herrenschießhaus und im Süden die Insel Schütt.
Wir drehen uns weiter herum, mit Blick auf die zerstörte Frauenkirche und Sebalder Kirche. Wir stellen uns vor: Dazwischen ist nichts, nur eine riesige Steppe mit sandig-lößartigem Boden! Gras und Pionierpflanzen zeigen sich auf der Brachfläche, durchkreuzt von Trampelpfaden, man sieht noch die letzten Eisenbahngleise des Trümmer-Express, der die traurigen Reste der Altstadt auf die Schuttberge außerhalb der Stadt abtransportiert hat.
Dieses Brachland, das im Volksmund Sebalder Steppe genannt wird, ist eine Zwischenstation des Wiederaufbaus: Bereits 1947 wurden dazu erste Ideen über einen Architektenwettbewerb gesammelt. Die Stadtplaner entschieden sich für die komplette Räumung des Trümmerfeldes, das durch die Bombardierungen entstanden war.
Heute, nach über 60 Jahren, sind die Kriegstrümmer als Hügelfelder am Dutzendteich begrünt und dienen zur Naherholung. Über sie ist buchstäblich Gras gewachsen
, Erinnerungen wurden untergepflügt. Der 1952 begonnene Wiederaufbau in der Sebalder Steppe hat den Stadtteil verwandelt, zwangsläufig jedoch auch dessen alte Bebauungsstrukturen überdeckt: die Häuser, Straßen und Gassen in der östlichen Sebalder Altstadt sind nun Zeugnisse der Baupraxis der 50er Jahre, die sich an den damals vordringlichsten Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte.
Als Eselsbrücke* zu den Himmelsrichtungen galt früher in der Schule der Satz: Nicht Ohne Seife Waschen. Mit »N« im Norden angefangen, verknüpfen sich hier im Uhrzeigersinn die vier Himmelsrichtungen: Norden – Osten – Süden – Westen – wie bei einem Kompass.
Eine Eselsbrücke ist eine einfache Form der Mnemotechnik, also einer Technik, mit deren Hilfe wir uns leichter an etwas erinnern können.
Wir Heutigen stehen mit unserem Wunsch, uns zu erinnern, wie der vorsichtige Esel vor einer sich spiegelnden Wasseroberfläche: Uns ist der Untergrund nicht ganz geheuer und wir wollen deshalb nicht ins Wasser laufen. Sicher war auch nicht alles schön, woran wir uns erinnern werden – die Kriegs- und Nachkriegszeit war für die meisten Nürnberger eine lange Zeit der Entbehrungen. Wir brauchen daher Brücken zur Erinnerung, die uns Sicherheit bieten und Mut machen, dies unsichere Terrain zu betreten und zu erforschen.
Wir brauchen zudem ein Instrument ähnlich einem Kompass, das uns in der Erinnerungslandschaft der östlichen Sebalder Altstadt Orientierung und Hilfe bietet. Dieses Instrument möchte ich Ihnen im Projekt Kompass Sebalder Steppe mit unseren gemeinsamen Gedächtniswerkstätten anbieten.
Gedächtniswerkstätten
Gedächtniswerkstätten sind auf das Erinnern fokussierte Workshops, bei denen sich Interessierte treffen, um mehr über ein spezielles Thema zu erfahren, das mit der Vergangenheit der Sebalder Steppe und ihrem Fortwirken in die Gegenwart des Stadtteils zusammenhängt. In künstlerischen und assoziativen Arbeitsmethoden, in die Stadtteilbewohner und Zeitzeugen eingebunden sind, die noch Krieg, Zerstörung und den Wiederaufbau in der Sebalder Steppe miterlebt haben, wird dabei das Potenzial des Erinnerns geweckt und sichtbar gemacht.
Diskussionen, Einführungen von Partnern, Filmausschnitte und das Betrachten von Archivmaterialien wie historischen Fotos und Plänen helfen uns dabei genauso wie metaphorische Begriffe aus der Gedächtniskunst uns als Leitfäden und Arbeitsgrundlagen dienen: der Gedächtnispalast als eine komplexe, die Eselsbrücke als eine einfache Art der Mnemotechnik – und alles zusammenbindend unser Projekt als Kompass, der uns die Orientierung im kollektiven Gedächtnis von Nürnberg erleichtert.
In einer Gedächtniswerkstatt wird manches Vergessene wieder in die Gegenwart gerufen und in der Gruppe kommuniziert. Damit wird die historische und auch subjektive Vergangenheit der Teilnehmer angesprochen und assoziativ verknüpft. Die Teilnehmer fungieren als Autoren und Multiplikatoren. Diese Form der Arbeit ist ein demokratischer, sozialer Prozess, der einen Teil des gemeinsamen kulturellen und historischen Erbes sichtbar machen soll.
Etwa ab der siebten Gedächtniswerkstatt im Frühjahr 2017 beginnen wir gemeinsam, persönliche Geschichten, Fotos, historisches Archivmaterial und verschiedenste Gegenstände für eine spätere Präsentation im Stadtteil (in einer temporären Ausstellung im Sommer 2017) und auf dieser Website (dauerhaft auf der Seite Sammlung) zusammenzutragen, also sowohl öffentlich zugängliche Daten, Fakten und Materialien als auch private Fotos, Dokumente und Objekte betreffend die Sebalder Steppe für die Öffentlichkeit zu bündeln.
Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte von Zeitzeugen und Bewohnern des Stadtteils werden dabei selbstverständlich respektiert: Es werden nur diejenigen Objekte, Fotos, Geschichten und sonstigen Erinnerungsstücke öffentlich präsentiert, mit denen alle Beteiligten einverstanden sind.
Wir sammeln Erinnerungsfotos, Archivmaterial und Exponate jeglicher Art. Zum Prozess gehören Interviews mit Zeitzeugen unter vier Augen
, um biografische Geschichten aufzuschreiben, die Auswahl der aussagekräftigsten historischen Fotos in der Gruppe, Führungen zu spezifischen Plätzen, um persönliche Erinnerungen zu aktivieren, und anderes mehr.
Mit der Präsentation der gesammelten Objekte und Dokumente in einer temporären Ausstellung im Sommer 2017 ist das Projekt Kompass Sebalder Steppe abgeschlossen, denn weiter reicht der Auftrag, den mir die Stadt Nürnberg erteilt hat, bisher nicht. Diese Website – insbesondere die Seite Sammlung – wird jedoch auch nach dem Sommer 2017 als ein langfristiges Archiv unseres Projekts und seiner Ergebnisse dienen, das der Öffentlichkeit über das Internet frei zugänglich ist.
Ist das nun das Ende der Geschichte? War das schon alles? Kommt noch mehr?
Die Wunschvorstellung der Initiatorin Nachdem die Sammelobjekte der Zeitzeugen und Bürger temporär ausgestellt wurden, würde ich gerne zusammen mit den Bürgern an der Materialisierung eines fest installierten Kunstwerkes arbeiten, das als ein gemeinschaftlich erarbeitetes Erinnerungs-Denkmal im Stadtteil fungieren kann.
Dies wäre dann ein Kunstwerk, das alle Bewohner des Stadtteils repräsentiert und von der Bevölkerung angenommen werden wird, weil sie in die Formfindung, die Auswahl der gezeigten Inhalte, die Standortsuche und die gesamte Realisierung eingebunden wurde. Dadurch wird eine lebendige, zukunftsorientierte Stadtteilkultur unterstützt.
Eine mögliche dauerhafte Präsentations-Art könnte so aussehen: Die von uns gesammelten Fotos, Geschichten, Tonaufzeichnungen und Exponate werden an Fassaden, auf dem Boden und an anderen Stellen im Quartier installiert. In Form von Vitrinen, Schriftbannern, Texttafeln, Fotowänden, Akustik und anderen Medien können die Sammelstücke (oder ihre wetterfesten und lichtbeständigen Reproduktionen) so ihren dauerhaften Platz im Stadtraum finden.
Dies erfordert allerdings einen Zuschlag der Stadt für eine solche dauerhafte Präsentation und Gelder für die Realisierung. Ein materielles, im Stadtteil präsentes Erinnerungs-Denkmal für die ehemalige Sebalder Steppe steht also im Moment – Dezember 2016 – noch in den Sternen
, so wünschenswert und sinnvoll es auch wäre. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.